Interview mit Bundestrainer Shihan Hideo Ochi

Frage:
In der Öffentlichkeit wird Karate selbst heute noch als Kampfkunst mit der Nähe zum Straßenkampf gesehen und als Sport der „Ziegelzertrümmerer" angeschaut. Gleichzeitig verbreitet sich aber mehr und mehr die Ansicht, dass Karate, ähnlich wie Yoga, über heilende Kräfte verfügt. Was hat es damit auf sich?
Ochi:
Karate ist wie ein Schwert mit zwei Schneiden. Und jede dieser beiden Schneiden kann gut und schlecht gebraucht werden. Es ist oberflächlich und sogar gefährlich, wenn man beim Karateüben nichts als die bloße Anwendung der Technik im Kopf hat. Karate ist mehr: Für jeden Karateka muss die Selbstkontrolle zu einem wichtigen Ziel werden.
Wenn einem beim Training Fehler unterlaufen, kann das natürlich gesundheitliche Nachteile mit sich bringen. Jeder Mensch hat starke und schwache Seiten. Man darf nicht nur die starken, man muss auch die schwachen Seiten trainieren.
In der Grundschule und in Kata werden beide Seiten rechts und links gleichmäßig trainiert. Das gilt auch im übertragenen Sinne für das Körperliche und das Geistige. Karate üben heißt, und das ist wichtig, dass man an seinen schwachen Seiten arbeitet.
Was nun Yoga betrifft, hat das wohl eine Nähe zum Zen. Hier liegt das Ziel in der Stabilisierung der Vitalität, vor allem durch korrektes Sitzen und kontrollierte Atmung. Geistig ist es der Gewaltlosigkeit verpflichtet. Karate kann man auch als Zen in der Bewegung bezeichnen. Es führt, korrekte Haltung und korrekte Atmung vorausgesetzt, zu denselben Zielen wie Zazen.
Wenn alle, die den Weg des Karate gehen wollen, darüber nachdächten, dass es ihr Ziel sein muss sich selbst weiterzubringen, dann könnte wohl niemand mehr sagen, dass Karate ein gewalttätiger Sport sei.

Frage:
Als Sie noch Karateschüler waren, wurden damals diese Zielsetzungen von ihren Lehrern propagiert?
Ochi:
Mein Sensei sagte immer, ich dürfe nicht nur allein den Körper trainieren, sondern müsse immer auch den Geist mit einbeziehen. Ich fragte wie man denn den Geist trainieren könne. Seine Antwort war, dass das Training des Geistes darin liege, dass man jede Technik stark, kontrolliert, konzentriert und mit richtiger Atmung ausführe. Und es stimmt, dadurch wird man tatsächlich ruhig und ausgeglichen und schließlich hält man den Geist unter Kontrolle. Wenn man nicht ruhig und ausgeglichen ist, kann man nicht klar denken. Wenn man nicht klar denkt, erreicht man keine Selbstkontrolle. Ich habe das selbst erfahren. Solange die Technik nicht in jeder Hinsicht hundertprozentig ist, ist keine Kontrolle möglich, weder geistig noch körperlich, und in der Folge kann es im Freikampf zu Verletzungen kommen. Das heißt für mich, wenn ich eine Technik nicht hundertprozentig beherrsche, dann wende ich diese Technik im Kumite nicht an. Wenn das allgemein beachtet wird, ist Karate nicht gefährlich. Leider setzen heute viele Karatesportler ihren Gegner einem Risiko aus. Das aber ist dann gefährlich.

Frage:
Sie legen viel Wert darauf, dass Karate mit Kime ausgeführt werden soll, damit die Techniken dem Körper nicht schaden. Was würde denn passieren, wenn Techniken schnell aber ohne richtiges Kime ausgeführt werden?
Ochi:
Korrektes Kime zeigt sich in der Fähigkeit, eine Technik mit maximaler Geschwindigkeit auszuführen und die gesamte Muskulatur im Endpunkt der Bewegung zu spannen. Fehlt die Spannung in der Endphase, kann das zu Gelenkschäden bei einem selbst, und mangels Kontrolle auch zu Verletzungen beim Gegner führen. Ohne Kime, also ohne Kontrolle über die Technik, ist Kumite und Karate ganz allgemein gar nicht möglich.

Frage:
Zielen ohne zu treffen, getroffen zu werden ohne „getroffen zu sein", mit dieser Vorstellung kommen viele Leute nicht klar. Wie wollen Sie das Gefühl für Selbstkontrolle einerseits und Partnerschaft andererseits im Karateunterricht fördern?
Ochi:
Ich möchte zuerst etwas zu dem Aspekt „Partnerschaft" sagen. Partnerschaftlichkeit ist etwas, was man im Kumite lernt. Das Trainieren mit dem Partner, bis hin zum Freikampf, muss in allen Formen des Partnertrainings (Gohon Kumite, Kihon Ippon Kumite, Jiyû Ippon Kumite) geübt werden. Übergeht man diese Formen des Kumite, dann ist ein kontrollierter Freikampf nur schwer möglich. Beim Partnertraining und Freikampf darf man nicht nur an die eigenen Techniken denken, sondern man muss den Gegner in sein Kampfverhalten einbeziehen, da man ihn ja nicht verletzen will. Das wird klar, wenn man Karate mit anderen Kampfsportarten vergleicht. Beim Karate gehen wir ruhig und kontrolliert in einen Kampf und schlagen nicht wild aufeinander los wie beim Boxen, um den Gegner mit einem Treffer zu Boden zu schicken. Natürlich ist es für Außenstehende nur schwer zu verstehen, dass man im Karate die „Treffer" nicht sieht.
Ein anderes Thema des Karate ist „Kontrolle". Im Karate kontrolliert man sich selbst so, dass der Partner nicht berührt wird. Eine Ausnahme bilden die Blocktechniken. Streng genommen gibt es im Karate keinen körperlichen Kontakt zum Partner außer bei den Abwehrtechniken. Um eine Technik vor den vitalen Punkten des Gegners präzise zu stoppen, gibt es nur eine Trainingsmethode. Sie liegt darin, die Technik ständig zu wiederholen. Im Kumite muss man dann in der Lage sein, völlig in die Sphäre des Gegners einzudringen, ohne ihn dabei körperlich zu berühren oder gar zu treffen.
Hinsichtlich der Trainingsmethoden" im Karateunterricht ist zu sagen: Anfänglich sollte man sich nur kleine Ziele setzen. Es geht vor allem darum, den Körper im Training kontinuierlich aufzubauen. Nur durch viel Training und durch wiederholtes Üben derselben Technik kann man diese erlernen und schließlich kontrollieren. Trainiert man nur wenig, ist dies nicht möglich, und man hat beim Training mit einem Partner keine Kontrolle.
Man muss schon in der Grundschule die Techniken mit Timing und einem Verständnis für richtige Distanz trainieren. Ein solches Grundschultraining muss auch der Fortgeschrittene, der den Wettkampf zum Ziel hat, beibehalten.

Frage:
Wo sehen Sie den Unterschied zwischen modernem und traditionellem Karate?
Ochi:
Was ist modernes und traditionelles Karate? Für mich gibt es nur ein Karate!

Frage:
Worin sehen Sie den Unterschied zwischen Ihrem Training früher und dem Training heute?
Ochi:
Früher dachten wir nicht die ganze Zeit an den Wettkampf und entsprechend war unser Training nicht darauf ausgerichtet. Es war uns einfach nicht so wichtig. Wir haben vor allem Grundschule, Kata und Gohon-Kumite trainiert. Freikampf übten wir vielleicht in der Woche vor einem Wettkampf.
Geht man zum Wettkampf, ohne sich und seine Techniken kontrollieren zu können, so kämpft man nicht anders als ein Tier, ja, so blindwütig wie ein Kampfhahn. Daher muss der Trainer junge Karatekas in der Anfangszeit langsam und methodisch aufbauen, sie erst die Grundbewegungen üben lassen, bis diese wirklich sitzen, bis die Techniken gut gekonnt und korrekt beherrscht werden. Hier gibt es keine Kompromisse. Dann erst kann man mit dem Wettkampf beginnen.
Es gilt also, zur richtigen Zeit das Richtige zu trainieren. Ich bin der festen Meinung, man sollte nicht zu früh mit dem Wettkampf beginnen, da ein Karateka anfänglich noch keine richtige Technik, keine Kontrolle und keine Deckung entwickelt haben kann. Kämpfen unerfahrene Anfänger, hat das Verletzungen zur Folge, die ihnen den Spaß am Karate verderben können und dazu führen, dass Aktive ihr Training beenden. Und wenn das Ziel eines Karateka ausschließlich im Wettkampf liegt, verliert er möglicherweise bald die Freude und Lust am Karate, wenn sich der erhoffte Erfolg nicht einstellt. Aber Wettkampf ist eben nur ein Teil des Karate.
In der Wettkampfzeit muss man sich natürlich darauf konzentrieren, dass man nicht verliert; aber wenn alle nur das eine Ziel hätten, Champion zu werden, würden die meisten im Alter von 30 Jahren mit dem Karate aufhören. Eine Entwicklung im Sinne des Karate-Dô würde es dann nicht mehr geben. Wir müssen uns in jeder Periode unseres Karate-Lebens ein Ziel setzen und versuchen, es zu erreichen. Wenn wir erreicht haben, was wir uns vorgenommen haben, setzen wir uns ein neues Ziel. Daraufhin treten wir in eine neue Phase ein, in eine neue Periode, und verfolgen nun unser neues Ziel.

Frage:
Herr Ochi, was sagten Ihre Lehrer zu der Entwicklung des Wettkampfkarate in Japan in den Anfangszeiten?
Ochi:
Mein Lehrer war Nakayama sensei, der das Wettkampfkarate initiiert und entwickelt hat. Trotz seiner Bemühungen um das Wetztkampfkarate befürchtete er jedoch, dass durch den Wettkampf dem Karate eine Versportlichung drohe. Er war der Ansicht, dass man unbedingt darauf achten müsse, dass neben dem Wettkampf das Budô und der Geist des Karate-Dô nicht verloren gehe.
Auch im Wettkampfbereich darf der Sinn für die starke Technik, den Ippon, nicht verloren gehen: Die strengen Kriterien für eine Ippon-Wertung müssen Maßstab für Kämpfer und Kampfrichter sein und bleiben.
Früher war es so, dass nicht jeder an einer Meisterschaft teilnehmen konnte. Jeder musste sich durch die Demonstration guter und starker Techniken dafür qualifizieren. Das machte den Wettkampf sehr hart, aber auch sehr schön und interessant. Heute treten zu viele unqualifizierte Kämpfer an, was die Wettkämpfe oft weder schön noch interessant macht.
Die große Wettkampfarena der traditionellen japanischen Kampfkünste, das Budôkan in Tôkyô, war früher immer vollbesetzt. Man muss ganz klar sehen, dass die Hinwendung zum Wettkampf das Budô und damit auch das Karate populär gemacht hat. Ohne Wettkampf würden heute viel weniger Leute Karate betreiben. Der Wettkampf hat also seine Berechtigung. Es gilt aber, einen Kompromiss zwischen modernen Wettkampfanforderungen und dem ursprünglichen Bud o-Geist zu finden. Dieser Kompromiss liegt nach meiner Ansicht und Erfahrung allein im Shôbu-Ippon-System. Dieses System erfordert ein Karate, das der ursprünglichen Ausrichtung der Kampfkunst noch nahe steht. Mein Trainer sagte, dass man zwar Wettkämpfe durchführen müsse, gleichzeitig solle man sich aber mit aller Kraft an den Zielen des Budô und des Karate-Dô ausrichten. Beides müsse im Gleichgewicht sein.

Frage:
Was muss Ihrer meinung nach im Training beachtet weren, damit man seine körperlihce Gesundheit zugleich mit technischer Brillianz ausbauen und ein Leben lang erhalten kann?
Ochi:
Ich bin weit über 60 Jahre alt. In dem Alter fällt das Trainieren oft schwer, da die Muskeln und Gelenke nicht mehr so funktionieren wollen wie früher. Das ist aber normal und man muss darauf Rücksicht nehmen. Ich kompensiere das mit Krafttraining, um meinem Körper die nötige Muskulatur zu erhalten. Wenn ich beispielsweise bei einem Lehrgang sehe, wie Männer und Frauen, die noch älter sind als ich, sich über die ganze Trainingszeit anstrengen und hart trainieren, dann verlange ich das auch von mir selbst. Gerade im Alter, wenn die Wehwehchen anfangen, muss man unbedingt weitertrainieren und darf sich nicht schonen, außer man ist wirklich verletzt. Die entscheidende Voraussetzung, Karate bis ins hohe Alter zu trainieren, ist eine saubere und korrekte Grundschule.